Gesamtkunstwerk

Natürlich ahnte der Architekt Alex Ram 1933 nicht, welche Wertschätzung sein Entwurf etwa einhundert Jahre später durch die neuen Bauherren erfährt und auf welche Weise sein Projekt, für das er so gekämpft hatte, von den Architekten Reichwald Schultz & Partner quergedacht, weiterentwickelt und bereichert wurde. Das Ergebnis: Ein echter Kunstgriff, der Gestern und Heute harmonisch vereint.

Das Haus aus den 1933er Jahren war in keinem guten Zustand, als es die Bauherren in dem klassischen Hamburger Vorort entdeckten. Cappuchinofarbenes Klinkerriemchen, die sehr schmale hohe Form mit der kleinen Grundfläche und fehlendes Vorstellungsvermögen hatten schon einige Interessenten in die Flucht geschlagen. Doch die Bauherren erkannten von Anfang an, wie viel Potential in dem Altbau auf dem etwa 1.000 Quadratmeter großen Grundstück steckte. Wie konnte in dem sehr kleinen Altbau Platz für eine Familie mit vier Personen geschaffen werden? Anbauen, neu errichten, weiterentwickeln – das war hier die Frage.

Schnell war die Entscheidung getroffen, die Tradition des Hauses wahren zu wollen und sie durch ­einen Neubau zu ergänzen. Die Chemie zwischen Bauherren und Architekten stimmte sofort und bildete die Grundlage für die folgende vertraute und gute Zusammenarbeit. Zunächst schlugen Reichwald Schultz & Partner verschiedene Varianten vor, wie man mit dem sehr schlanken Spitztonnendachhaus umgehen könnte. Doch keine sollte richtig passen. „Wir haben uns dann gefragt, warum man nicht einfach die Baukörper des Alt- und Neubaus voneinander löst und kamen auf die Idee, eine ähnliche Typologie hinten quer anzusetzen“, erklärt Architekt Peter-Karsten Schultz. Durch diese Aufteilung entstand das neue Ensemble: Eine winkelförmige Anlage mit einem schönen geschützten Sonnenhof, der nach Westen ausgerichtet ist. Er liegt im Winkel des neuen seitlichen Altbau-Eingangs und des Küchenbereichs im Neubau.

Der kompakte schlanke Altbau wird im rückwär­tigen Neubau zu einer großzügigen Garten-Remise mit Koch-, Ess- und Wohnbereich mit einem bis zu 5,50 Meter hohen sichtbaren Rundgewölbe neu transformiert und avanciert zum raumhaltigen Zentrum des gesamten Ensembles. Durch den gewonnenen Platz des Anbaus konnte der Bestand so umorganisiert werden, dass in seinem Erdgeschoss ein großzügiger Rückzugsbereich für die Bauherren entsteht. Die zwei Kinder bewohnen das komplette Dachgeschoß mit eigenem Bad und dem ausgebauten Spitzboden darüber.

TRADITION QUERGEDACHT UND NEU ENTWICKELT

Vor allem die Fassade hatte gestalterisch und baukonstruktiv durch nicht fachgerecht aufgeklebte Klinkerriemchen schweren Schaden genommen, sodass ein neuer Aufbau mit mineralischen Putzen und Silikatfarben notwendig war. Originale Fensterteilungen am straßenseitigen Südgiebel und am westlichen Kapitänserker wurden wiederhergestellt. Auch der Dachstuhl wurde komplett erneuert. „Da hat die Baufirma mega gute Arbeit geleistet. Denn der hohe Giebel des Altbaus ist in dieser schmalen Ausführung sehr selten.“ Um eine exakte gleichmäßige Geometrie für die Dachdeckung und den Innenausbau zu erhalten, kamen CNC-gefräste Bogenbinder aus Furnierschichtholz zum Einsatz, genau wie bei der Konstruktion des Neubaus.

Besucher betreten das Haus nun von dem seitlich angelegten Eingang, der sich an dem neuen Sonnenhof befindet. Der erhöhte Bereich des Altbaus leitet uns über ein paar Stufen hinab in einen tunnelartigen Verbindungsgang zum Neubau, der sich auf der Gartenebene befindet. Schon von der Diele aus lässt er einen spannenden Durchblick längs dieser Raumfolge bis in die Tiefe des Grundstücks zu. Vier große quadratische Fenster öffnen den Neubau zum Garten und zum Hof, so dass die Küche in die verbindende Sichtachse zwischen Eingangshof und Terrasse eingespannt ist. Der zurückgezogene Wohnbereich mit der Eck-Kaminanlage ist vom Koch- und Essbereich abgetrennt und verleiht diesem Raum die gewünschte Intimität.

Drei quadratische Fensteröffnungen in den Giebel- und Trennwänden, verbinden die privaten Räumlichkeiten sowohl mit der Nachbarschaft und dem Himmel als auch untereinander. Sie sind unterschiedlich positioniert und ausgebildet: Ein tiefes, durch abgeschrägte Laibungen gefasstes Fenster Richtung Westen schwebt oberhalb der Küche und steuert so wesentlich die Lichtstimmung im Raum. In der Giebelwand gegenüber, sitzt das Fenster direkt auf Höhe des Kamins und schafft so den intimen Ort. Das dritte Fenster ist eine Öffnung im oberen Bereich der Trennwand, das den jeweils angrenzenden Raum anbindet, ohne direkte Einblicke zuzulassen. „Die Remise wird somit als Ganzes und als Kontinuum von zwei ausdifferenzierten, sich durchdingenden Räumen wahrgenommen. Großzügigkeit einerseits und exakte Räume andererseits schaffen das Raumempfinden, das ganz besonders ist.“

Der neue Anbau wurde komplett in Holzrahmenbauweise vorgefertigt und zusammen mit drei segmentierten Tonnendächern an nur einem Tag aufgestellt und montiert. Die hinterlüftete Dachdeckung besteht aus vorgebogenen Titanzinkbahnen und die vertikal geschalte Fassade aus gehobelter sibirischer Lärche, wurde mit einer silbernen Vergrauungslasur behandelt. So erinnert der Neubau der Garten-Remise an den Bautypus der Gothic-arch barn, einer Scheune aus Rundbogenbindern im mittleren Westen der USA, die von 1910 bis 1940 populär war und hier zeitlich wie typologisch die in sich stimmige Entsprechung zum Bestandsgebäude herstellt.

Bereits die Planung im Jahr 1933 ist spannend. Alte Dokumente aus der Zeit der Machtübernahme zeigen, wie sehr sich der Architekt damals für das „expressive“ Spitztonnendach eingesetzt hat, pochte doch der Bezirksvorsteher auf ein typisch deutsches Satteldach. Zum Glück ließ er nicht locker und setzte sich schließlich durch. Vielleicht wäre er sehr glücklich damit, wie sein Gedanke von den Architekten Reichwald Schultz & Partner weitergedacht und vollendet wurde. „Das Besondere ist die Wertschätzung gegenüber der Bauweise des Architekten von damals. Über die Beschäftigung damit sind wir auf das neue Ensemble mit der gleichen Typologie ­gekommen. Das ist das schöne und spannende von ‚Bauen im Bestand‘. Man muss damit umgehen, um etwas Neues ent­stehen zu lassen.“ Herausgekommen ist ein perfekter Familiensitz – zukunftsgewandt und traditionsbewusst – in dem jeder sein Reich für ein schönes Leben im Hier und Jetzt finden kann.

www.reichwaldschultz.de


ARCHITEKTEN REICHWALD SCHULTZ & PARTNER, Berlin/Hamburg
LAGE Hamburg-Hummelsbüttel
BAUJAHR 2020
FLÄCHE Wohnfläche 183 qm | Grundstücksgröße 999 qm
STATIK Carola Görge Tragwerksplanung, Hamburg
LICHTPLANUNG NEUBAU Lumoplan, Berlin
NEUBAU/DACHSANIERUNG/HOLZBAU 
ALTBAU MOBAU, Hamburg
PUTZ-/MALERARBEITEN CK Bau Cagri Kaya, Hamburg
ELEKTROARBEITEN Felgenhauer Elektrotechnik, Hamburg HEIZUNGS-/SANITÄRINSTALLATION
Björn Lembke Heizungstechnik, Schenefeld
FLIESENARBEITEN NORDWEST Spezialbaubetrieb, Hamburg MAURERARBEITEN  Eggerstedt & Schlüter, Hamburg
PARKETTARBEITEN  Felix Zscheile Konstruktionen, Hamburg | Benjamin Gerdell, Hamburg 
KAMINBAUER  HHK Hamburger Kamine, Hamburg
ABBRUCH-/ERDARBEITEN/AUSSENANLAGEN
Abbruch-/Erdarbeiten/Außenanlagen Abbruch Werner, Büchen
KÜCHENBAUER MEIRO Design, Norderstedt

FOTOS Marcus Ebner